Der Gründungspräsident der Hippocrène-Stiftung, Jean Guyot, starb im Alter von 85 Jahren am 9. September 2006 in Paris. Seine Laufbahn und seine Taten waren von einem tiefen und dauerhaften Engagement für Europa geprägt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, während dessen er Teil des französischen Widerstands war, wird er Finanzinspektor und tritt 1946 ins Kabinett von Robert Schumann ein. Anschließend geht er zur Staatskasse, wo er als stellvertretender Direktor für die Finanzverwaltung des Staates und die Finanzierung von Investitionen zuständig ist. Er ist Mitglied der ausgehend von einer Idee François Bloch-Lainés’ gegründeten Investitionskommission. Außerdem trägt er zur Verteilung der Entschädigungsleistungen des Marshall-Plans in Frankreich bei, die seiner Meinung nach alle für Investitionen im Rahmen des Plans gedacht sind. In Ausübung seiner Funktionen arbeitet Jean Guyot häufig mit Jean Monnet, dem Leiter des Plans, zusammen, und zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine von Achtung und Vertrauen geprägte Beziehung.

 

Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bittet ihn Jean Monnet, deren finanzielle Leitung zu übernehmen. Jean Guyot nimmt an und trägt dazu bei, der ersten Institution in der Geschichte Europas in den europäischen und amerikanischen Finanzkreisen zu Glaubwürdigkeit zu verhelfen, indem er die Hohe Behörde der EGKS ermächtigt, in ihrem damals vor allem bei amerikanischen Investoren noch wenig geltenden Namen Darlehen zu vergeben. Diese Geschäfte werden mit der Unterstützung einer kleinen Zahl von Finanziers durchgeführt, darunter André Meyer, Teilhaber bei Lazard, David Rockefeller, Leiter der Chase Manhattan Bank, und Siegmund Warburg.

André Meyer möchte bei Lazard einen Finanzinspektor einstellen und fragt Jean Monnet um Rat, welcher ihm Jean Guyot empfiehlt. 1955 tritt dieser im Alter von 34 Jahren als Teilhaber und Geschäftsführer bei Lazard in Paris ein, also in ein Haus, dessen Tätigkeiten damals von André Meyer und Pierre David-Weill überwacht werden. Er bleibt bis zur Börseneinführung im Jahr 2005 bei Lazard; dann scheiden die „Gründerfamilien“ aus der Bank aus. Auch während seiner Tätigkeit als Teilhaber und Geschäftsführer setzt er sein Wirken für Europa fort. Die EGKS dehnt ihre Präsenz auf die internationalen Finanzmärkte aus, und Lazard bleibt der europäischen Institution, deren Finanzleitung Jean Guyots Nachfolger Paul Delouvrier übertragen wurde, eng verbunden. Generell wirkt Jean Guyot stets auf die Bildung eines Europas der Finanzen hin.

 

Seine Finanzlaufbahn behindert seine Rolle als großer Staatsdiener in keiner Weise. In enger Zusammenarbeit mit Jacques Rueff ist er am gleichnamigen Plan beteiligt, der bei der Rückkehr General de Gaulles an die Macht zur Einführung des neuen Franc führt. Diese Initiative verfolgt auch ein europäisches Ziel, wie das Pressekommunique des Wirtschafts- und Finanzministers verlauten lässt: „Der neue Franc lässt sich mit den solidesten Fremdwährungen vergleichen. Er charakterisiert den französischen Aufschwung. Er wird die Transaktionen mit unseren Partnern auf dem gemeinsamen Markt erleichtern.“

Als Geschäftsbankier zögert Jean Guyot nicht, sich an gewagten europäischen Initiativen zu beteiligen. So kommt es 1965 beispielsweise zur ersten Begebung von Parallelanleihen für ENEL. Das Unternehmen hatte damals enormen Finanzierungsbedarf und wurde von Geschäftsbank Mediobanca beraten, mit der Jean Guyot über Jahre hinweg kontinuierlich zusammengearbeitet hatte. Es geht darum, in mehreren Ländern des gemeinsamen Marktes mehrere Anleihetranchen zu begeben. Die ausgewählten Banken, zu denen für die französische Tranche Lazard gehört, werden beauftragt, ihre Anleihetranchen zeitgleich und zu einheitlichen finanziellen Bedingungen auf ihren jeweiligen Markt zu begeben. Diese Art von Initiative soll den europäischen Kapitalmarkt stimulieren. Im Hintergrund stand bereits die Idee der Schaffung einer gemeinsamen Währung für die einzelnen Länder. Jean Guyot engagiert sich auch für die Modernisierung der französischen Wirtschaft und beteiligt sich an mehreren einschneidenden Geschäften wie dem ersten öffentlichen Übernahmeangebot in Frankreich am Ende der 1960er Jahre. BSN, ein vielversprechendes, von Antoine Riboud geleitetes junges Unternehmen, das später zu Danone werden soll, versuchte, die Kontrolle über das vom damaligen Establishment verteidigte Traditionsunternehmen Saint-Gobain zu übernehmen. Guyot trägt auch zur Stärkung der großen französischen Unternehmen bei. So spielt er eine wesentliche Rolle bei der Fusion zwischen Peugeot und Citroën. Allgemein wirkt er bis zu seinem Lebensende im In- und Ausland an zahlreichen Geschäften im privaten und öffentlichen Sektor mit und spielt auch bei den Privatisierungen der 1980er Jahre in Frankreich oder bei der Beratung des Investitionsausschusses der Vereinten Nationen bis zum Beginn der 2000er Jahre eine wichtige Rolle.

An der Seite der Familien David-Weill, Bernheim und Meyer war Jean Guyot einer der Hauptakteure der Gründung und Entwicklung von Eurafrance zwischen 1972 und 2001 und war auch an den Umstrukturierungen beteiligt, die zur Gründung von Eurazeo führten.

 

Sein Engagement für Europa geht über das Finanzielle hinaus und erstreckt sich auf alle Bereiche, institutionelle, humanitäre und künstlerische. So unterstützt er beispielsweise auch Institutionen und konkrete Projekte bei Themen, die ihm am Herzen liegen; zu nennen sind hier die Gründung der Vereinigung der Freunde Jean Monnets, die Groupe des Belles Feuilles – die junge Europäer zusammenführt -, CARE Frankreich oder das amerikanische Krankenhaus, dessen Gouverneur er war. 1992 beschließt er gemeinsam mit seiner Frau Mona die Gründung der Hippocrène- Stiftung, um seine persönlichen Hilfeleistungen auch für die Zukunft festzuschreiben. Diese Stiftung soll zum Zusammenhalt zwischen jungen Europäern beitragen und unterstützt insbesondere junge europäische Künstler. Sie ermöglichte es Jean Guyot, seine unzähligen, dem Aufschwung Europas gewidmeten Engagements bis zu seinem Lebensende fortzusetzen, und wird Projekte, die diesem Ideal entsprechen, auch weiterhin am Leben erhalten.

Über das Leben eines großen Geschäftsbankiers und Entscheidungsträgers erhalten wir einen Einblick in das politische und wirtschaftliche Leben Frankreichs während der letzten fünfzig Jahre.

 

Jean Guyot wurde im Jahr 1921 in einer Bürgerfamilie Grenobles geboren; im Jahr 1943 tritt er dem französischen Widerstand bei; nach der Befreiung Frankreichs wird er in die Finanzinspektion aufgenommen. Als Berater Robert Schumanns im Finanzwesen sowie am Quai d’Orsay, übernimmt er anschließend, in einer Zeit, in der Frankreich seine Finanzen in Ordnung bringen muss, das hochpolitische Amt des Direktors des Schatzamtes. Er wird von Jean Monnet angeworben und tritt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) bei, deren Gründung den ersten wichtigen Meilenstein für die Bildung Europas darstellt.

 

Seine Erfahrung im Bereich der öffentlichen Finanzen erweckt das Interesse der beiden Leiter der Banque Lazard, André Meyer und Pierre David-Weill, die ihn deshalb zum Hauptverantwortlichen für die Industriesektoren Frankreichs in der Pariser Bank ernennen. Jean Guyot soll eine wesentliche Rolle für die Schaffung des „neuen Francs“ spielen und zahlreiche Politiker, von Couve de Murville über Georges Pompidou bis hin zu Giscard d’Estaing, beraten.

 

Der in der breiten Öffentlichkeit nur wenig bekannte Jean Guyot ist einer der sogenannten „Herren von Lazard“, ein diskreter Bankier und zugleich eine der dreißig einflussreichsten Persönlichkeiten des damaligen Frankreich. Aufgrund seines ausgeprägten Sinns für das nationale Interesse wird er selbst nach der Machtübernahme Mitterands im Jahr 1981 während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle bei der Modernisierung der französischen Industrie und der Einführung des Gemeinsamen Marktes spielen. Alessandro Giacone ist ein ehemaliger Schüler der École Normale Supérieure, Gymnasiallehrer für Geschichte und Italienisch, Dozent an der Universität Grenoble und Spezialist der europäischen Institutionen und Eliten nach 1945.
 
Erhältlich bei CNRS Editions